Entschleunigen, einen Gang zurückschalten – das ist eine Kunst, die heutzutage immer mehr in Vergessenheit gerät. Den Fokus dabei auf das Wesentliche zu richten, wird im Zeitalter des medialen Dauerfeuers und des Informationsüberflusses zudem auch immer schwieriger. Könnt Ihr mit Gewissheit sagen, wann Ihr Euch zuletzt auf eine bestimmte Sache konzentriert und alles andere – Smartphone inklusive – dabei bewusst ausgeklammert habt? Ich könnte das nicht. Multitasking ist das Wort der Stunde. Und selbst während ich diese Zeilen tippe, ruft ein Mailprogramm diverse Konten ab und ein Nachrichtenticker schiebt mir Neuigkeiten aus aller Welt und allen Bereichen über einen zweiten Bildschirm. Von etlichen offenen Browser-Tabs fange ich erst gar nicht an. Was ich aber tun kann, ist, Euch heute vom zweiten BOY-Album zu erzählen. Das Damenduo ist in der Popwelt ein Paradebeispiel dafür, Dinge ruhig und fokussiert anzugehen. Und schuf mit We Were Here eine Wohlfühlplatte als Kontrastprogramm einer immer ungemütlicher werdenden Welt.
Man muss 2011 vermutlich unter einem Stein verbracht haben, um seinerzeit nicht mit Valeska Steiner und Sonja Glas alias Boy in Berührung gekommen zu sein. Ihr Little Numbers mauserte sich zu einem Gassenhauer, das zugehörige Debütalbum Mutual Friends stieg direkt in den Top 10 der deutschen Charts ein, blieb 40 Wochen in den Top 100 und wurde schlussendlich mit Gold ausgezeichnet. Logisch, dass eine Band, die ihre Karriere mit Konzerten einleitete, bei einem solchen Höhenflug auch einmal rund um den Planeten tourte. Erfreulich: Auch wenn sie allen Grund dafür gehabt hätten, BOY sind trotz des enormen Erfolges bodenständig geblieben. Dass erst gute vier Jahre später ein neues Album zum Hören und Liebhaben veröffentlicht wurde, hängt wohl mit der generellen Vorgehensweise des Duos zusammen. Kennengelernt haben sie sich 2005 an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, die Bandgründung erfolgte jedoch erst 2007. Von da an sollten weitere vier Jahre vergehen, ehe BOY im Herbst 2011 mit dem erwähnten Mutual Friends das anhaltende BOY-Fieber auslösten. Man sieht: Die Damen lassen sich viel Zeit, um ihrer Musik alle nötige Zeit zur Reife zu geben.
Das ist auch gut so; Machwerke, die wie mit der heißen Nadel gestrickt wirken, gibt es gerade im Pop-Bereich schließlich auch mehr als genug. Im Vergleich zu vielen anderen Alben, die das Jahr 2015 bisher gehört hat, klingt We Were Here so, als sei jeder Ton exakt deshalb an Ort und Stelle, weil sehr lange und sehr gründlich darüber nachgedacht wurde, ihn hier und so zu platzieren und nicht anders. Fokussiert auf das Wesentliche gefällt We Were Here einmal mehr mit einer sehr zurückhaltenden Produktion. Mit Arrangements, der Präzision eines Schweizer Uhrwerks ähnelnd, die gleichwohl Euphorie und Melancholie punktgenau liefern. Es erinnert an ein Auto, das eine nächtliche Straße entlangfährt. Die Lichtreflexionen, die von Straßenlaternen, Leuchtreklamen usw. auf die glänzende Karosserie treffen, entsprechen dabei der funkelnden, euphorischen Stimmung. Die Momente, in denen das Auto in die schwarzen Schatten eintaucht, hingegen der bittersüßen Melancholie, an der es diesem Album ebenfalls nicht mangelt.
Solche Eindrücke vermittelt schon allein das Titelstück ziemlich eindrucksvoll. Zudem zeigen die Damen, dass sie musikalisch in den vergangenen vier Jahren gereift sind. Im direkten Vergleich zu Mutual Friends klingt die Mucke jetzt nicht mehr so folk-poppig. We Were Here tönt größer, eindrucksvoller – ein bisschen auch stadienfüllender. Die Zeiten, in denen BOY vor Kleinstpublikum spielen mussten, sind lange vorbei. Trotz jahrelanger Funkstille, in der sie akribisch an neuem Material arbeiteten, kühlte das BOY-Fieber nicht ab. Sie haben es verstanden, sich eine Fan-Basis zu erspielen, die auch über lange Zeit ohne jegliches Lebenszeichen die Treue hält. Anders lässt sich nicht erklären, warum die ersten Konzerte der kommenden Tour bereits ausverkauft waren, noch bevor überhaupt irgendwelches Material veröffentlicht wurde.
Mag die Mucke jetzt auch irgendwie gereifter, größer, internationaler klingen – die charmante, einhüllende Wärme, durch die man sich in BOY-Songs sofort wohlfühlt, sie ist immer noch Bestandteil eines jeden einzelnen Songs. Zudem: Die Fokussierung auf das Wesentliche, das Vermitteln von Gefühlen und Stimmungen, erreichen sie dadurch, dass die Songs eben nicht so überfrachtet sind, wie sie unter anderen Umständen vielleicht hätten sein können. Mal sind die Gitarren sehr gedrosselt, ein anderes Mal ist die Elektronik nur ganz dezent an der Bewusstseinsgrenze wahrnehmbar. Und über allem schwebt die angenehme Stimme Valeskas. Das Tüpfelchen auf dem i, das es braucht, um es sich endgültig in der musikalischen Welt von BOY bequem zu machen.
Inhaltlich haben die Damen keine Kehrtwende hingelegt. Sie bleiben bei den Themen, die Ihr und ich genauso gut abends bei einem Glas Wein wälzen könnten. Um mal bei dem Auto zu bleiben: Was würde denn passieren, wenn Mensch von heute mit einem Straßenkreuzer durch die Nacht gurkte? Weiß man nicht, aber dass Selfies eine nicht unwesentliche Rolle spielen, davon kann wohl ausgegangen werden. Dieser allgegenwärtige Selfie-Wahn in Kombination mit dem grassierenden Social-Media-Zwang ist das Thema in Hit My Heart.
Wer, wie ich in früheren Jahren, aus beruflichen Gründen viel Zeit in unterschiedlichsten Hotels unterschiedlichster Städte verbracht hat, wird bestätigen können: Es ist manchmal eine ganz eigenwillige Atmosphäre, die dort vorherrscht. Und irgendwie erzählt jedes Hotel seine eigene Geschichte. Manchmal bildet man sich ein, die Präsenz vorheriger Gäste noch spüren zu können. Oder ist das schlicht die Einsamkeit, die sich beim Blick auf die kahlen, unpersönlichen Zimmerwände ins Bewusstsein schiebt? So wie in Hotel thematisiert?
Noch umwerfender als das Titelstück finde ich persönlich übrigens No Sleep For The Dreamer. Nicht nur, weil es in meinen Ohren eine bezaubernde, akustische Aufbereitung des Hermann-Hesse-Zitats „und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ darstellt, sondern weil es sich in sanften Wellen zu einem sehr nachhaltigen Ohrwurm entwickelt. Das summt man noch vor sich hin, da ist das Album schon lange verklungen.
We Were Here ist eines der schönsten Alben dieses Jahres. Das wollte ich abschließend nur noch einmal festgestellt haben, nur falls das aus dem vorangegangenen Text nicht deutlich geworden sein sollte.

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