Dass ich das letzte Album von Diorama, Tiny Missing Fragments, für einen ganz, ganz großen Wurf halte, ja sogar für eines der beeindruckendsten Alben, die je durch meine Gehörgänge gezogen sind, habe ich verschiedentlich schon mal erwähnt, denke ich. Falls nicht: Mit diesem Album haben die Herren um Torben Wendt ein Album geschaffen, das so voller musikalischer Raffinesse steckt, dass ich am liebsten ein eigenes Genre danach benennen möchte, und das vor allem über eine extrem hohe Halbwertszeit verfügt. Noch heute schallt das Album immer wieder mal durch meine Stube und das, ohne dabei auch nur ein einziges Lied zu überspringen. Das, liebe Menschen, schaffen nur die wenigsten Alben.
Gleichwohl verstehe ich auch diejenigen Hörenden, denen Tiny Missing Fragments zu verspielt, zu verkopft, zu wenig Möglichkeiten zur expressionistischen Entfaltung auf den Tanzflächen dieser Welt bot. Zweifelsohne beinhaltete das Album mit Stücken wie Gasoline durchaus Futter für die Clubs, dennoch: Den größeren Reiz bot und bietet Tiny Missing Fragments, wenn man sich in ein stilles Kämmerlein zurückziehen und sich via Kopfhörer von der Musik forttragen lassen kann.

Um nicht zuletzt auch jenen, für die es Teil der Diorama-Erfahrung ist, dazu zu tanzen, gerecht zu werden, erscheint in diesen Tagen Fast Advance Fast Reverse, ein musikalisches Schwesteralbum. Im Vorfeld war vom Haus- und Hoflabel Accession Records zu vernehmen, es würde sich um mehr als ein musikalisches Nachwort handeln, das „clubtaugliches Futter und geradlinige Balladenmomente“ serviert und damit Fans früherer Werke abholen möchte. Das kann man so stehen lassen und theoretisch den Artikel damit beenden. Aber Ihr kennt mich – so knapp kommen wir hier nicht raus aus der Nummer. Lasst uns doch mal einen Blick auf ein paar Beispiele werfen.
Da wäre zum Beispiel die von Zoodrake angefertigte Bearbeitung von Horizons. Hier werden viele akustische Elemente des Originals aufgegriffen, damit man sich erst einmal direkt heimisch fühlen kann – mit dem unterlegten Bumms und der generellen Future-Pop-Ausrichtung, die hauptsächlich im letzten Drittel des Songs an beeindruckender Eigenständigkeit zulegt, fällt es nicht schwer, sich dazu tanzende Menschen vorzustellen. Siehste, direkt zum Auftakt ein Volltreffer.
Ein Volltreffer ist auch iisland in der Bearbeitung durch Faderhead. Der Hamburger Producer hat aus der Nummer eine 1A-Clubnummer gemacht, die gekonnt beide Handschriften vermischt: die eigene wie auch die von Diorama. Da bekommt das Jahr 2022 kurz vor dem Ende und somit gerade noch rechtzeitig vor den anstehenden Silvesterpartys noch einmal eine sehr mächtige Stulle geschmiert. Der detailverliebte Musikliebhaber in mir freut sich über dieses eine, ganz bestimmte Geräusch im Refrain, das klingt wie ein Hammer, der auf Stahl schlägt, und mich auf wohlige Weise etwas an das Terminator 2 Main Theme von Brad Fiedel erinnert. Mehr möchte ich zu der Nummer eigentlich auch nicht sagen jetzt. Lasst mich mal kurz durch bitte, ich möchte tanzen!
Das Meer oder Belle bekommen einen legitimen Erben
Patchwork als Klavierfassung durch Diorama erinnert so sehr an frühere Großtaten wie Das Meer, Kain’s Advice oder Belle, dass ich direkt ein wenig sentimental werde, wenn diese Nummer läuft. Und das wirklich jedes Mal. Dass wir hier (das erste Mal bewusst) Gesangsspuren hören, die den Verdacht nahelegen, es hätten auch neue Gesangsaufnahmen stattgefunden, anstatt einfach nur die vorhandenen abermals aufzuwärmen, steigert die ohnehin schon enorme Beeindruckung nur noch mehr. Was für eine irre schöne Fassung dieses Songs. Genau der richtige Begleiter für die langen, grauen Tage, die noch vor uns liegen. Die Winterzeit hat ja gerade erst angefangen, und ich würde mal in den Raum hineinspekulieren, dass die Monate Januar und Februar nicht nur für mich einigermaßen problematisch sind. Dank dieses musikalischen Gemütwärmers blicke ich dem jetzt aber etwas optimistischer entgegen.
Mein persönliches Highlight ist ja der Chilled Edit von Horizons, den die Herren Diorama höchstselbst angefertigt haben. Wie man dem Namen nach schon ganz richtig vermuten kann, ist diese Version des Songs eine, die man am besten in den Stunden des Tages hört, wenn die Nacht im Begriff ist, dem Tage zu weichen. Man kann die Sonne noch nicht sehen, ihre Strahlen greifen aber schon um sich. Ein paar wenige Momente noch, und die letzten Nachtschwärmer verschwinden dorthin, wohin sie eben verschwinden, wenn die Nacht kapituliert, und die ersten Menschen werden aus ihren Häusern kommen und zur Arbeit wuseln. Oder wohin auch immer. Man selbst ist in diesen Momenten vielleicht nicht mehr als ein stummer Zeuge dieses Geschehens, schweigend auf dem Balkon den Übergang beobachtend, den letzten Schluck Rotwein austrinkend und so langsam bereit dafür, erst einmal Feierabend zu machen.

Genauso wie auch schon in der Originalfassung des Songs gefällt mir diese entspannte Version durch die grenzgeniale musikalische Gestaltung. Falls Ihr Euch an das 2006er-Album Dare To Live von Rotersand erinnern solltet: Darauf befand sich Almost Wasted in einer sogenannten 4-Uhr-Morgens-Bearbeitung und die Stimmung dort ist eine ähnliche wie hier in Dioramas eigener Interpretation von Horizons. Dass hier einmal mehr bisher ungehörte Gesangsaufnahmen zu hören sind, trägt ebenfalls zur Begeisterung bei.
Sehr spannend auch iisland in der Fassung von Broken Spencer. Ähnlich wie schon bei Kollege Faderhead wird hier eine treibende, pulsierende Tanzflächenversion geliefert, mit Beats so knochentrocken wie geerntetes Heu in der Sommerhitze. Es würde nur ein Funke genügen, um einen Flächenbrand zu entfachen. Das Lied schwankt immer zwischen schnellen und flächigen Passagen und zündelt damit immer fröhlich herum, übt sich dennoch auf spannend-faszinierende Weise in einer Art Genussverweigerung. Immer, wenn man denkt, gleich kracht es richtig, wird wieder ein wenig das Tempo gedrosselt, was dieser Variante des Songs eine höhere Halbwertszeit beschert, als wenn es sich schlussendlich doch nur in technoides Gebumse ergehen würde.

Um so langsam mal zum Ende zu kommen, möchte ich es gerne mal so sagen: Es gibt Remixe. Und es gibt Remixe. Was die Pflicht von der Kür unterscheidet, ist ein ganz entscheidender Faktor. Will man einen sinnvollen Remix anfertigen, der einem Song, inzwischen hinlänglich von der angepeilten Zielgruppe bekannt, neue Seiten abgewinnt, ist es zwingend erforderlich, dass man den Kern eines Songs erfasst hat. Die Seele des Liedes berührt. Jede Wette, dass selbst die Ungeübtesten den Unterschied heraushören würden zwischen einem Remix, der nur des schnöden Auftrags wegen angefertigt und einem Remix, der mit Leidenschaft und Hingabe in die Welt entlassen wurde.
Nachdem ich Fast Advance Fast Reverse einige Male gehört habe, bin ich zu der Überzeugung gekommen: Alle Musikschaffenden, die hier einen Remix lieferten, haben die Songs, ihren jeweiligen Kern, ihre Seele, erfasst und verstanden. Und anschließend das Kunststück vollbracht, das jeweilige Lied musikalisch neu einzukleiden und auf famose Weise, neben dem jeweiligen Original, glänzen zu lassen. Wenn ich zwingend noch irgendwas Kritisches schreiben müsste, würde ich vielleicht – vielleicht! – kritteln, dass ich mir bei der Auswahl der Songs mehr Varianz gewünscht hätte. Dreimal iisland oder zweimal Gasoline … Nun, Tiny Missing Fragments böte sicher noch mehr Stoff für spannende Neuinterpretationen. Ich habe aber gar keinen Bock, herumzunöhlen und schließe diesen Artikel ab mit folgender Feststellung: Dolles Ding, dieses Fast Advance Fast Reverse!

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