Ein Album von ganz besonderer Güte: ophio von Die Wilde Jagd
© Richard Hancock

Ein Album von ganz besonderer Güte: ophio von Die Wilde Jagd

Es ist Donnerstag, der 23. Februar des Jahres 2023. Ich habe das neue Album ophio von Die Wilde Jagd inzwischen diverse Male gehört. Die Veröffentlichung steht ins Haus und noch immer sinniere ich darüber, was Sebastian Lee Philipp mit diesem Album, dem Titel sowie dem Titelstück sagen möchte. Es ist ja nicht so, als wäre Die Wilde Jagd von Album zu Album seit Veröffentlichung des gleichnamigen Debüts im Jahr 2015 immer zugänglicher geworden. Eher im Gegenteil; das Projekt lebt von Andeutungen und Anspielungen, die wie kleine Farbtupfer aus dem musikalischen Gemälde herausstechen. „Es geht“, so umschreibt Sebastian Lee Philipp das Konzept des Albums, „um die ständige Entfaltung des Selbst, um die verführerischen Kräfte des Lebens, eine Ode an die Existenz und die Transformation zum Glück“. Und plötzlich kommt mir der Gedanke, ophio sei von religiösen bzw. spirituellen Motiven durchzogen. Wenigstens in Teilen. Was mich auf diese Idee bringt? Das will ich Euch gerne verraten.

Ophio, so erklärt es uns die Wikipedia, leitet sich vom griechischen ophis ab, bedeutet Schlange und wird für Wortbildungen verwendet, in denen der Begriff Schlange vorkommt. So ist etwa Ophiologie nichts anderes als die Schlangenkunde. Die ersten gesungenen Zeilen des Titelsongs lauten: „Fütternde Hand / Den Fesseln entrannt / Bist Du zu Besuch / Auf ein Gesuch vorbei?“, und schlagartig habe ich das Alte Testament im Sinn, die Schöpfungsgeschichte mit Adam und Eva und so weiter. Könnte denn die fütternde Hand nicht der Allmächtige sein, von dessen Fesseln sich die beiden Nackedeis lösten, in dem wenigstens einer von beiden Paradiesmenschen dank der List der Schlange – Ophio! – vom Baum der Erkenntnis naschte? Eine klare Antwort darauf bleibt das Lied schuldig.

Keine Antworten, keine Fragen – nur viel Raum für Interpretationen. Und die Musik.

So wie auch der Rest des Albums, sofern die Songs nicht nur instrumentale Stücke sind, in ihren sehr rudimentären Texten, die eher Fragmenten gleichen, auf nichts eine Antwort gibt. Es stellt womöglich aber auch gar keine Fragen. Vielmehr stellt es Stimmungen in den Raum, hervorgerufen von wahrlich meisterlich komponierter, arrangierter und wunderbar luftig produzierter Instrumentierung, die, wie Philipp erklärt, der Transformation zum Glück dienlich sein können. Es wäre eine Meisterleistung, wenn dies gelänge. Musikkonsumenten, denen es eine Wonne ist, in Musik abzutauchen, die (nicht nur) gefühlt keinen Anfang und kein Ende hat, dafür aber mit zahlreichen Details aufwartet, welche sich erst sukzessiv offenbaren, wird ophio gewiss rund 53 Minuten purer Glückseligkeit bescheren.

© Richard Hancock

ophio ist keines dieser Alben, die den Hörenden die Türe aufstoßen und mit Pop-schunkeliger Gefälligkeit ins Gehör wandern möchten. Versteht mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass ophio nicht eingängig und einnehmend wäre – nur eben auf eine andere Art und Weise. Auf eine, die eine Affinität zu dieser insgesamt eher ruhigen, definitiv aber avantgardistischen Mischung aus Electronica und irgendwie auch neoklassischen Elementen voraussetzt.

Ich finde es konsequent, dass das längste Stück des Albums ausgerechnet das instrumentale Perseveranz geworden ist. Perseveranz bedeutet so viel wie Beharrlichkeit oder Ausdauer, und die braucht es vielleicht auch. Ein wenig ist ophio wie die Perle in einer Muschel am Meeresgrund, die erst geborgen werden will. Mir kommt in diesem Zusammenhang auch der Perseveranzeffekt in den Sinn. Es ist dies ein sozialpsychologisches Phänomen, das besagt, dass der erste Eindruck, den wir über eine Person, ein Ereignis – oder hier: über Musik – gewinnen, so nachhaltig prägend ist, dass nachfolgende neue Informationen den ursprünglichen Eindruck nur mit Mühe verändern. Denkbar, dass der Ausspruch, dass es für den ersten Eindruck keine zweite Chance gäbe, hier wissenschaftlich verankert ist.

Wie dem auch sei, worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Dieser Perseveranzeffekt ist im Falle von ophio Fluch und Segen gleichermaßen. Wenn Ihr das Album in einem Moment hört, in welchem Ihr diesem Kleinod nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken könnt oder wollt, wird es sich möglicherweise als verschrobenes, einigermaßen seltsames, viel zu ruhiges und nicht sonderlich aufregendes Machwerk in Eurem Hirn einbrennen. Es gilt aber auch umgekehrt, und das würde ich aufgrund der wirklich beeindruckenden handwerklichen Finesse, die hier in jedem auch noch so zarten Hauch eines Tons steckt, höher gewichten: Hat man ophio als Offenbarung abgespeichert, die sich wohltuend von dem lauten Getöse des Mainstreams abhebt, wird es im Prinzip unmöglich, sich noch etwas anderes einreden zu lassen.

Konsequent ist auch, dass das Album mit dem Stück Ouroboros endet. Einmal mehr wird hier scheinbar das Konzept der Schlange aufgegriffen, ist Ouroboros doch im Prinzip das Bild oder Symbol einer sich selbst verzehrenden Schlange. Ein Symbolbild, das sich bis ins Alte Ägypten zurückverfolgen lässt, aber auch in ähnlicher Form in der nordischen Mythologie zu finden ist und als Sinnbild der in sich kreisenden Unendlichkeit angesehen werden. Kein Anfang, kein Ende. Und hat man das Album auf Repeat laufen, knüpft das Ende an den Anfang an. Alles wird zu einem Kreislauf. Kurz möchte ich meinen Hut ziehen vor der ausgeklügelten Genialität, die in diesem Album versteckt ist.

Wenn ich Euch abschließend einen Tipp geben darf: Gebt Euch ophio, ganz gleich, ob Ihr zuvor schon Erfahrung mit der experimentellen, avantgardistischen und doch so fesselnden Musik von Die Wilde Jagd gesammelt habt, oder nicht. Schafft Euch den entsprechenden Rahmen, frei von Ablenkungen oder Störungen aller Art. ophio ist ohnehin kein Album, das sich zum Konsum nebenbei eignet. Und auch die vorab ausgekoppelten Stücke ophio und In Wonnenhieben verlieren ohne den Gesamtkontext ein wenig an Wirkung. Gebt Euch dieses Album vielleicht am besten über Kopfhörer. Ganz schnell haben Euch Sebastian Lee Philipp und seine Band Ran Levari (Schlagzeug), Lih Qun Wong (Gesang und Cello) und in weiteren Positionen unter anderem Philipp Otterbach, Vactrol Park und Nina Siegler (bereits schon auf Himmelfahrten zu hören gewesen) in einen trance-artigen Zustand versetzt. Alsbald befindet Ihr Euch möglicherweise auf einer höchst individuellen Reise durch Zeit und Raum, in der Eure Gedanken und Gefühle genauso Platz bekommen, wie die Musik selbst.

Wenn ich es poetisch ausdrücken wollte, würde ich etwas schreiben wie: Die sehr luftige, sehr dynamisch wirkende Produktion gibt jedem Ton, jeder noch so filigranen elektronischen Spielerei, jedem noch so hintergründigen Sample, jeder auf dem Cello gezupften oder gestrichenen Note, jedem gesungenen, geflüsterten oder gesprochenen Wort so unheimlich viel Platz zur Entfaltung, dass mir unweigerlich in den Sinn kommt, es handele sich bei alledem um Glühwürmchen, die in der Dunkelheit umeinander herumtanzen. Wo andere Alben immer noch mehr Bombast auf- und die Hörenden damit förmlich überfahren, übt sich dieses Album in vornehmer Zurückhaltung und beweist, dass weniger manchmal eben doch mehr ist. So viel mehr. Alben wie ophio sind es, weswegen 2023 musikalisch rückwirkend als ganz besonderer Jahrgang angesehen werden wird.

© Bureau B
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Roman Jasiek

Hi, ich bin Roman! Ich bin ein Kind der 80er und schreibe seit Ende der 1990er-Jahre Dinge ins Internetz. Mein Herz schlägt für Musik, Comics, Collectibles, Essen, Reisen, Wandern und meine Lieblingsmenschen. Ich lebe und arbeite in Gardelegen.