Nur mal angenommen, das Ende der Welt wäre gekommen. Und das schneller, als jede noch so optimistische Vorhersage es hätte annehmen können. Nicht etwa, weil das Klima sich noch schneller und krasser verändert und dem Menschen die Lebensgrundlage entzogen hätte. Und auch nicht, weil uns ein fieser Virus ausgelöscht hätte, ein Asteroid auf den Kopp geknallt wäre oder gar, weil die Konflikte und Kriege auf diesem Planeten zum atomaren Feuer geführt hätten. Sondern schlicht und ergreifend, weil dieser Planet zur Spielwiese von Aliens wurde, die uns Menschen für ihre sehr merkwürdige Form von Sozialstudien missbrauchten. Es soll aber nicht direkt gleich die ganze Menschheit ausgerottet werden. Ein paar handverlesene Exemplare der Spezies Mensch sollen den Fortbestand sichern. Jetzt die Gretchenfrage: Wer dürfte das sein und warum? Damit hätten wir den groben Rahmen vom ersten Band des DC Schockers Das Haus am Meer schon mal umrissen.
Wann dieser Comic spielt, ist nicht klar. Genauso wenig wie bekannt ist, was genau vorgefallen ist, was die Erdbevölkerung auf eine überschaubare Gruppierung hat zusammenschrumpfen lassen, die sich im Prinzip an drei Händen abzählen lässt. Oder was genau es war, dass beispielsweise ausgerechnet ein Akupunkteur oder eine Autorin, die noch nie einen Roman veröffentlicht hat, der Apokalypse entgehen durften.
Was wir aber wissen, ist: Diese kleine Schar Menschen lebt in einem schicken Anwesen – eben dem besagten Haus am Meer – und kann den lieben langen Tag schalten und walten, wie sie will. Was immer sie sich wünschen, können sie bestellen und bekommen es dann geliefert. Einen Hund, damit es in der Bude bisschen lebhafter wird? Kein Ding. Bisschen Gewitter machen, der Stimmung wegen? Auch kein Problem. Ebenso können die … na, nennen wir es vorsichtig mal „Einwohner“ in ihrem neuen Habitat weder erkranken noch altern noch sterben. Jedenfalls nicht von allein.
Alle stehen oder standen sie in einer Beziehung zu Walter, jenem Außerirdischen, der sie für den Verbleib im Haus am See handverlesen auserwählt hat. Teilweise schon vor Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten. Nur: Sind sie wirklich die letzten Überlebenden einer unbekannten Katastrophe? Oder gibt es noch weitere Häuser wie dieses? Wenn ja, was machen die Menschen dort? Und könnten diese vielleicht sogar in Konkurrenz zu denen im Haus am See stehen? Muss vielleicht gar noch final geklärt werden, wer wirklich überleben darf?
Puh! Leichte Kost ist diese Fortsetzung zum Haus am See von James Tynion IV ganz gewiss nicht. Gar nicht mal so sehr, weil die Schockeffekte, wenn auch bei Auftreten einigermaßen unappetitlich, sich in Grenzen halten. Sondern weil dieser 200-Seiten-Wälzer enorm textlastig ausgefallen ist und sich so viele Charaktere über Aktuelles und Vergangenes unterhalten, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, den Überblick zu behalten. Ja, und das trotz des vermeintlich überschaubaren Umfangs handelnder Personen!
Die schönen, künstlerisch wertvollen Bilder von Álvaro López, machen es nicht leichter. Gruselige Atmosphäre erzeugen kann der Mann, stimmungsvolle Bilder malen auch. Aber die einzelnen Personen sind sich manchmal dank fitzeliger Darstellung zu ähnlich. Das ist allerdings in beiden Fällen Genörgel auf hohem Niveau und tut der Sache keinen Abbruch.
Das Haus am Meer ist, neben der schaurigen Geschichte über das Ende der Welt, vor allem auch eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage, wer überleben darf, wenn die Zeit gekommen ist. Und wer nicht? Ist ein Wissenschaftler mit astronomischem IQ tatsächlich „wertvoller“ (gefällt mir selbst nicht, dieser Begriff im Zusammenhang mit Menschen) als eine Friseurin, die vielleicht weniger klug und gebildet ist als besagter Wissenschaftler, dafür aber soziale Kompetenzen hat, die dem Laborkittel vollkommen abgehen? Wie misst man den Wert einer Person für das Funktionieren (und hier auch: Fortbestehen) einer Gemeinschaft? Ganz sicher bin ich nicht, ob James Tynion IV tatsächlich derart tiefgreifende Gedankengänge heraufbeschwören oder einfach nur eine abgefahrene Gruselgeschichte erzählen wollte.
Genaueres werden wir wohl erst mit dem zweiten Band erfahren, wenn … nee. An dieser Stelle muss ich aufhören, sonst verrenne ich mich möglicherweise noch in unbeabsichtigte Spoiler. Festhalten möchte ich aber, dass mich dieser Auftakt an eine ganz wilde Mischung aus David Bowies The Man Who Fell to Earth und dessen Fortsetzung Lazarus denken ließ, kombiniert mit einer ordentlichen Portion Sandman- und Twin Peaks-Feeling, abgeschmeckt mit Elementen des Psychothrillers und, ja, auch einer gewissen Portion Horror. Aus irgendeinem Grund muss das Ding das Label DC Schocker ja verdient haben, wa? Es ist dies ein sehr ungewöhnlicher Comic, und man sollte die Bereitschaft mitbringen, sich darauf einzulassen. Keine actiongeladene Handlung, wo es in jedem zweiten Panel knallt und kracht. Und auch trotz des Schocker-Labels solltet Ihr nicht erwarten, dass das Blut quasi aus den Seiten trieft. Die Geschichte wird ruhig, ausführlich und mit viel Augenmerk auf die Charakterentwicklung gesponnen. Und ich wäre nicht überrascht, wenn es im zweiten Band, ähnlich wie in Bret Easton Ellis’ Klassiker American Psycho, der sich auch lange mit Geschwafel aufgehalten hat, so richtig knallt. Wir werden sehen. Band 2 ist allerdings erst ab 2026 zu erwarten. Bis dahin hat man viel Zeit, über das Gesehene und Gelesene nachzudenken und es zu interpretieren. Das Haus am Meer ist kein Comic für alle; Fans des Besonderen sollten aber definitiv einen Blick riskieren.

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